Wie die Coronavirus-Pandemie die Qualitätsstandards für Datenvisualisierungen gedehnt hat

Datenvisualisierungen haben die öffentliche Meinung und die Stimmung in der Bevölkerung während der Coronavirus-Pandemie wohl so stark beeinflusst wie nie zuvor. Gleichzeitig führt die dynamische Daten- und Quellenlage dazu, dass wir "Visualisierenden" hier und da ein Auge zudrücken, wenn es um die Einhaltung der gängigen Qualitätsstandards geht. Wie schaffen wir trotzdem die Balance zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit? Ein Rückblick über ein Jahr Pandemie-Berichterstattung.

4/14/2021

Das Jahr 2020 war ein Besonderes für Datenvisualisierungen. Die Coronavirus-Pandemie machte es zu dem wohl Zahlenlastigsten der letzten Zeit. Egal, ob Datenjournalist*in, Statistiker*in, Politiker*in oder Normalbürger*in: Die gesamte Gesellschaft starrte das Jahr über auf Zahlen, Visualisierungen, Prognosen – und tut es noch immer. Jede neu gemeldete Infektion, jede Abweichung zwischen den Meldungen verschiedener Quellen, Vergleiche mit anderen Krankheiten und Zusammenhänge mit der Anzahl Testungen werden genau beobachtet, interpretiert und diskutiert. Ohne viel Vorbereitungszeit reagierten Behörden und Journalist*innen gleichermaßen auf den Informationsbedarf, scheinbar unkoordiniert und ohne zu wissen, wie es in der nächsten Woche aussieht.

Und der Informationsbedarf war und ist enorm, das Interesse an den aktuellsten Zahlen und Datenvisualisierungen gigantisch. Zugriffsrekorde, die lange ungeschlagen bleiben werden, gehen auf das Konto von Corona-Dashboards und -Karten. Die datenjournalistischen Inhalte werden von Nutzer*innen oft mehrmals täglich überprüft, um sich ein Bild der aktuellen Lage zu schaffen und eine Meinung über die Sinnhaftigkeit der von der Politik ergriffenen Maßnahmen zu bilden. Doch solche Erfolge bringen große Verantwortung mit sich. So stark wie wahrscheinlich nie haben Datenvisualisierungen einen Einfluss auf Meinungsbildung und Stimmung in der Bevölkerung. Gleichzeitig führt die dynamische Daten- und Quellenlage dazu, dass wir "Visualisierende" hier und da ein Auge zudrücken, wenn es um die Einhaltung der gängigen Qualitätsstandards geht. Wie haben sich unsere Entscheidungen verändert, und wie schaffen wir auch weiterhin den Balanceakt zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit?

Qualitäts-Etikette im Datenjournalismus

Datenjournalismus ist in erster Linie Journalismus. Alle Qualitätsstandards des Journalismus – Relevanz, Zugänglichkeit, Aktualität, Richtigkeit et cetera – gelten also auch für den Datenjournalismus. Dazu kommt aber, dass sich Datenjournalismus oft an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Wissenschaft bewegt. Datengetriebene Geschichten berichten nicht nur über Wissenschaft, sondern sind oft selbst kleine Forschungsprojekte. Auch beim Publikum entsteht dadurch leicht ein Eindruck von Wissenschaftlichkeit. Eine besondere Verantwortung haben Datenjournalist*innen gerade deshalb, weil sie mit ihren vereinfachten Darstellungen meist sehr viel mehr Menschen erreichen als eine wissenschaftliche Publikation. Datenjournalist*innen müssen sich daher zum Teil auch an wissenschaftlichen Qualitätsstandards messen lassen. Sie befinden sich in einem ständigen Balanceakt zwischen einem wissenschaftlichen Anspruch an Korrektheit und einem journalistischen Anspruch an Zugänglichkeit.

Vorweg: Wir Datenjournalist*innen haben recht hohe Ansprüche an unsere wissenschaftliche Genauigkeit. Wir verwerfen häufig genug Darstellungsformen oder Analysen, wenn ein Gewinn an Verständlichkeit und Schnelligkeit die Einbußen an Genauigkeit nicht rechtfertigen kann. Auch untereinander kritisieren wir Datenjournalist*innen gegenseitig unsere Darstellungsformen oder Methodenauswahl. Es gibt also eine gewisse brancheninterne Qualitätskontrolle im Datenjournalismus.

Die Pandemie als extremer Balanceakt

Die Pandemie hat unsere interne Qualitätsabwägung extrem erschwert. Einigen Wissenschaftler*innen dürfte es ähnlich gehen. Der Relevanz- und Aktualitätsdruck ist seit Frühjahr 2020 so immens hoch, dass die Waage – normalerweise vorsichtig ausbalanciert – stark kippt: Vereinfachung und Schnelligkeit sind geboten, während wir händeringend versuchen, wissenschaftliche Korrektheit so hoch zu halten wie irgend möglich.

Zum Beispiel zeigten Datenjournalist*innen in ihren Dashboards und Grafiken bereits zu Beginn der Pandemie die täglich gemeldeten Neuinfektionen in Deutschland – im Wissen, dass sich Definition, Meldemethodik, Testmöglichkeiten und Veröffentlichungszeiten zu Beginn laufend änderten, was den täglichen Vergleich der Zahlen vor allem für Laien erschwerte. Ohne immensen Relevanzdruck hätten sich wohl viele von uns dagegen entschieden, diese Daten zu benutzen.

Wir hätten unter anderen Umständen wohl auch nie Daten aus so vielen unterschiedlichen Quellen – Ländern mit unterschiedlichen Meldepflichten, Schätzverfahren und Definitionen – gemeinsam dargestellt und miteinander verglichen. Doch genau das ist der Fall bei den globalen Zahlen der Johns Hopkins University, auf welche die meisten datenjournalistischen Angebote zurückgreifen, um die weltweite Situation zu zeigen. Bei jedem anderen Thema hätten wir gesagt: Diese Daten können wir nicht nehmen, sie sind nicht miteinander vergleichbar, das sind keine homogenen Quellen. Doch in der aktuellen Lage sind sie schlichtweg die besten Annäherungen an die Realität, die wir haben – trotz fehlender Genesenenmeldungen aus den Niederlanden, plötzlicher Zahlenkorrekturen von Ländern wie Türkei oder Spanien oder sich ändernden Test-Etiketten in Italien (dort wurden zeitweise nur hospitalisierte Menschen getestet).

Auch in Puncto Zugänglichkeit haben Datenjournalist*innen ihre Ansprüche gedehnt: Eine Grafik, welche die Entwicklung der Reproduktionszahl über Zeit mit Unsicherheitsintervallen zeigt, hätten wir für den Verlauf einer Grippesaison vermutlich nicht umgesetzt. Kaum jemand hätte sie verstanden. Denn Datenjournalist*innen folgen meistens dem Prinzip: Wenn Leser*innen erst einen Beipackzettel lesen müssen, um eine Grafik zu verstehen, dann erfüllt sie nicht ihren eigentlichen Zweck – ein komplexes Thema auf einen Blick verständlich zu machen. Und vor der Pandemie hätte niemand ohne Beipackzettel verstanden, was eine Reproduktionszahl sein soll. Immerhin das hat das Coronavirus bewirkt: Leser*innen sind überdurchschnittlich bereit, sich auch in komplexere Metriken oder Visualisierungen einzulesen.

Insgesamt lesen sich die Infotexte von datenjournalistischen Corona-Analysen also wie lange Disclaimer: An allen Ecken und Enden gibt es kleine Sternchensätze mit Hinweisen auf Meldeverzögerungen und andere Vorbehalte. Wenn so viele Beipackzettel bei all unseren Projekten nötig wären – ich glaube, wir würden sie gar nicht erst anfangen. Oder zumindest nur noch für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum arbeiten.

Gedehnt, nicht gebrochen

Trotzdem haben Datenjournalist*innen in der Corona-Pandemie ihre Qualitätsstandards nicht einfach über Bord geworfen. Stattdessen gab es viele interne und auch branchenweite Diskussionen. Wir bemühen uns nach wie vor, so gut es geht zu informieren, ohne Dinge zu einfach oder falsch darzustellen. Jede kleine Änderung in der Darstellung oder Quellenauswahl wird intensiv besprochen, das Für und Wider abgewägt und nur umgesetzt, was wir für rechtfertigbar halten – trotz Aktualitätsdruck. Wir arbeiten mit dem, was wir haben, machen das Beste daraus, versuchen, den Leser*innen eine Orientierung in dieser Pandemie zu bieten und wägen immer wieder aufs Neue ab, wie wir bei diesem Drahtseilakt – zwischen Aktualität und Verständlichkeit auf der einen und wissenschaftlicher Richtigkeit und Genauigkeit auf der anderen – die Balance halten. Wichtig bleibt, dass wir nicht aufhören, uns dabei selbst zu hinterfragen, zu kritisieren und immer wieder nachzujustieren. Nur so können wir sicherstellen, dass wir im Gleichgewicht bleiben, statt vom Drahtseil zu stürzen.

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