Warum der Journalismus mehr Data Literacy braucht
Klimakrise, Corona Pandemie, Digitalisierung: Die großen Themen der Zeit sind Datenthemen. Muss der Journalismus sich dann nicht auch langsam mal mit mehr Data Literacy rüsten?
Im Jahr 2012 hielt Simon Rogers, ein britischer Datenjournalist, einen TED Talk, in dem er erklärte, warum Datenjournalismus der neue Punk sei. Die Verwendung von Daten, um Geschichten zu erzählen, war in den Nachrichtenredaktionen noch nicht weit verbreitet, wenn auch nicht komplett neu. Journalist*innen wurden eher zufällig zu Datenjournalist*innen, und arbeiteten in einer Nische. Sie begannen als Videojournalist*innen oder saßen am Newsdesk, als sie in den Daten- oder interaktiven Journalismus hineinrutschten.
Nerds im Newsroom
Wo vor ein paar Jahren noch Selfmade-Datenjournalist*innen ihre ersten wackeligen Schritte machten, gibt es heute etablierte Spezialist*innenteams: Journalist*innen arbeiten Seite an Seite mit Statistiker*innen, Designer*innen und Webentwickler*innen, sammeln und analysieren große Datenmengen oder basteln an interaktiven Karten und neuen Storytelling-Formaten. Und es gibt schon seit längerem Zuwachs, Menschen, die von Schulen oder Universitäten zu Datenjournalist*innen ausgebildet wurden, die sowohl schreiben und journalistisch recherchieren als auch programmieren und Daten analysieren können. In vielen Redaktionen bekleiden diese Teams noch immer Nischen. Sie sind Nerds im Newsroom, jene, die an Spezialprojekten mit Spezialtools handwerkeln und mit dem Rest der Redaktion wenig zu tun haben. Diese Trennung bricht dort auf, wo durch Erfolge mehr Interesse und gegenseitiges Verständnis entsteht.
Datenjournalistische Recherchen finden exklusive Geschichten und bieten einen sachlichen Blickwinkel auf emotional geführte Debatten, datenjournalistische Formate laden trockene Themen mit Spannung und übersetzen komplexe Sachverhalte in einfache Grafiken oder Vergleiche. Und in einer Zeit, in der Politik und Wirtschaft auf der Grundlage von Statistiken Entscheidungen fällen, schlägt der Datenjournalismus eine wichtige Brücke und ermöglicht es erst so richtig, zu hinterfragen, Trends zu zeigen, neue Debatten anzustoßen und neue Zugänge zu schaffen. So rücken datenjournalistische Skills allmählich von der Nische in die Mitte der Redaktion.
Ein Mangel an Data Literacy
Trotz vieler Erfolge etablierter Datenteams gibt es dennoch viele Redaktionen, in denen Kolleg*innen, die mit Daten arbeiten wollen, kaum genügend Zeit und Ressourcen dafür bekommen. Oder Chefredaktionen, die noch immer denken, dass ein sicherer Umgang mit Zahlen nur im Datenteam wichtig ist, und ansonsten nicht zu den Skills der Redaktion gehören muss. Doch wenn Klimakrise und Corona Pandemie dem Journalismus eins zeigen, dann, dass Daten und Statistiken aus der Berichterstattung nicht mehr wegzudenken sind. Sie können nicht mehr nur von Spezialteams aus einer Nische heraus bearbeitet werden.
Statistiken zu recherchieren und zu interpretieren, das ist nicht mehr nur eine Schlüsselqualifikation für Datenteams, Fact Checker*innen oder Investigativ-Ressorts. Auch am Newsdesk und überhaupt ressortübergreifend braucht es zumindest ein Grundverständnis, damit keine peinlichen Verwechslungen von Mittelwert und Durchschnitt mehr passieren. Damit gefährliches Halbwissen und unkritisches Bewerten von schlau klingenden und vor Zahlen strotzenden Aussagen von Politiker*innen und vermeintlichen Expert*innen nicht mehr dazu führen, dass diese einfach in Texte und Reportagen übernommen werden.
Deshalb sind datenjournalistische Skills nicht nur wichtig, wenn eine Pandemie oder eine Wahl mit Visualisierungen und statisischen Analysen begleitet werden soll. Schon die Grundlagen der datenjournalistischen Recherche können Journalist*innen bei ihrer alltäglichen Arbeit helfen, sind vielleicht sogar eine Voraussetzung dafür, zukünftig noch den Auftrag des Journalismus für die Gesellschaft erfüllen zu können. Denn in einer Welt, in der alles von Daten bestimmt wird – Lockdown-Maßnahmen, Gesetzesentwürfe, wirtschaftliche Entscheidungen – muss in so einer Welt nicht auch der Journalismus durchweg data literate sein, um beobachten, bewerten und einordnen zu können?